10.9.2024
Wir haben bereits in der vorangegangenen Ausgabe über das Verfahren BVerfG 1 BvL 1/24 berichtet. In diesem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geht es darum, ob eine sogenannte Zwangsbehandlung entgegen den ausdrücklichen Vorgaben in dem für das konkrete Verfahren noch maßgeblichen § 1906a I 1 Nr. 7 BGB a.F. (jetzt wortgleich § 1832 I Nr. 7 BGB) in Ausnahmefällen auch in einer Einrichtung zulässig sein muss, in der die betroffene Person untergebracht ist.
Es geht um Fallkonstellationen, in denen auch dort die gebotene medizinische Versorgung einschließlich einer verspäteten erforderlichen Nachbehandlung sichergestellt ist und mit einer Zuführung in ein Krankenhaus weitere Gesundheitsbeeinträchtigungen verbunden wären. In dem diesen Verfahren zugrunde liegenden Fall hatte die Betroffene auf notwendige Zwangsbehandlungen in einem Krankenhaus regelmäßig mit einer Retraumatisierung reagiert.
Das BVerfG hatte zunächst etlichen Organisationen die Möglichkeit einer Stellungnahme eingeräumt. In den eingerichteten Stellungnahmen wurden unterschiedliche Standpunkte vertreten: Zum Teil wurden jegliche Änderungen abgelehnt, zum Teil wurden sehr weitgehende Lockerungen befürwortet und teilweise wurden sehr enge auszulegende Ausnahmeregelungen vorgeschlagen.
Es gibt im Wesentlichen drei Aspekte, die in diesem Zusammenhang zu beachten sind:
a) Wenn der Staat die zwangsweise Behandlung eines Menschen und damit einen sehr schwerwiegenden Eingriff in dessen Grundrechte gestattet, hat er auch Schutzpflichten. Es muss deshalb dafür gesorgt sein, dass für den Fall von Komplikationen und auch für eine eventuell erforderliche psychologische Nachbehandlung ausreichendes ärztliches Personal vor Ort ist.
Das wäre in dem konkreten Fall aber gegeben, da es sich bei der Wohnform der Betroffenen um eine stationsäquivalente Behandlung gem. § 39 I SGB V handelt, also eine stationäre Behandlung im häuslichen Umfeld durch mobile ärztlich geleitete multiprofessionelle Behandlungsteams. Zum Teil wird in der Literatur deshalb davon ausgegangen, dass auch sogenannte stationsäquivalente oder teilstationäre Zwangsbehandlungen im Einzelfall genehmigungsfähig sein müssten, wobei in der Gerichtsentscheidung aber dezidiert dargelegt werden müsste, dass die Qualitätsanforderungen an die medizinische Versorgung und
Nachbehandlung auch in diesem räumlichen Bereich erfüllt sind (so im HK-BUR/Bauer/Braun in der Kommentierung des § 1906a BGB a.F. Rn. 223).
b) Daneben wird befürchtet, dass erste Ausnahmen zu einer Art „Dammbruch” führen würden. Wenn die Rahmenbedingungen nicht mehr so belastend wären, würde die Hemmschwelle bzgl. Beantragung und Genehmigung möglicherweise sinken, so dass solche Zwangsbehandlungen nach und nach immer verbreiteter werden würden.
Das würde eigentlich dafürsprechen, die jetzige strenge Regelung beizubehalten. Es ist aber auch nicht zulässig, einzelne Menschen im Interesse der Mehrheit quasi „zu opfern“, in diesem Fall also einzelne Personen den Strapazen einer Zuführung und den sich daraus ergebenden zusätzlichen gesundheitlichen Nachteilen auszusetzen, um eine Ausweitung der sogenannten ambulanten Zwangsbehandlung im Interesse Dritter zu vermeiden.
c) Problematisch ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass es keine Daten darüber gibt, ob eine Zwangsbehandlung im eigenen Wohnumfeld weniger belastend wäre als die Zuführung in ein Krankenhaus. Intuitiv geht man möglicherweise davon aus, dass eine Behandlung im häuslichen Umfeld weniger belastend ist, weil die Zuführung entfällt und der gesamte Vorgang und damit verbunden auch die Dauer der Gewaltanwendung wesentlich weniger Zeit in Anspruch nimmt. Andererseits kann es aber auch sehr belastend sein, wenn das häusliche Umfeld den Charakter einer „sicheren Umgebung“ verliert. Und man muss sich auch fragen, ob eine sich daraus ergebende dauerhafte Belastung nicht schwerer wiegt als eine Zuführung. Andererseits kann die eigene Häuslichkeit ihren Charakter als sicherer Raum zum Teil schon dadurch verlieren, dass Dritte dort eindringen und den Betroffenen mit Gewalt in ein Krankenhaus verbringen können. Hinzu kommt, dass es vermutlich auch individuelle Unterschiede gibt, Betroffene das also ganz unterschiedlich wahrnehmen und bewerten.
Dass es keine verlässlichen Daten darüber gibt, ob eine Behandlung im häuslichen Umfeld schonender sein kann als die mit einer Zuführung verbundene Behandlung in einem Krankenhaus, kann aber kaum als Argument dafür dienen, die derzeitige Regelung beizubehalten - dass keine verlässlichen Daten vorhanden sind, bedeutet schließlich auch, dass niemand weiß, ob die mit einer belastenden Zuführung verbundene jetzige starre Regelung wirklich die letztlich schonendere ist.
Es handelt sich jedenfalls um eine sehr vielschichtige Problematik und man wird sicherlich erst in einigen Wochen oder Monaten mit einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts rechnen können.